Wolf und Harlekin (German Edition) by Holger Thurm

Wolf und Harlekin (German Edition) by Holger Thurm

Autor:Holger Thurm [Thurm, Holger]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2016-12-20T23:00:00+00:00


106

Vor Ingelsgmünd (20. April 1945).

Sie waren gegen vier Uhr morgens mit den anderen Soldaten aufgebrochen. Das Tagesziel war Reutlingen, wobei unklar war, ob die Stadt schon angegriffen worden war oder ob der Angriff unmittelbar bevorstünde. Otto hatte in der Nacht kaum schlafen können. Er hatte große Angst, dass sie an diesem Tag Feindberührung erleiden würden, wie es immer im Jargon der Feldberichte hieß. Denn dann, darüber war sich Otto im Klaren, wäre für ihn entweder das Leben oder der Krieg vorbei. Die Wahrscheinlichkeit, in der Nähe eines Truppentransports Ziel eines Angriffs zu werden, war außerordentlich hoch.

Sturmbannführer Weiß schien das ähnlich zu sehen. Er hatte bei Aufbruch seiner kleinen Truppe verkündet, dass er sie aus Kampfhandlungen herauszuhalten gedachte.

»Wir werden uns in der Schwäbischen Alb zunächst verstecken und dann in Richtung Berge durchschlagen«, hatte er den Soldaten vor Sonnenaufgang erklärt. »Wir haben ganz klar den Auftrag, diese Kisten hier in Sicherheit zu bringen. Das heißt, wir werden uns keinesfalls länger als nötig bei der Truppe aufhalten. Wir ziehen jetzt so weit nach Süden wie möglich. Dann setzen wir uns ab.«

Die Soldaten nickten. Otto, Ulrich Moser und ihr Freund Horst Zeitler sahen sich an. Genau das hatten sie hören wollen.

Der Tross von Lastwagen setzte sich in Bewegung. Vorne und hinten fuhren ein paar Kübelwagen. Soldaten liefen in Zweierreihen neben den Fahrzeugen her oder saßen auf den Ladeflächen. Viele der Laster hatten Kisten mit gestrecktem TNT oder Granaten für die Panzerfäuste geladen. Otto hielt sich von den Sprengstoffkisten fern und blieb schön bei den beiden Henschel-LKW, die die Holzkisten aus Krakau enthielten. Die waren wenigstens nicht explosiv, dachte er.

Der Morgen kündigte sich an. Otto konnte zu seiner Linken ein Blau erahnen, das sich vom Schwarz des Himmels abhob. Wenige Minuten später, sie marschierten eine schnurgerade Landstraße entlang, brachen die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Hügeln hindurch. Am Horizont vor ihnen konnte Otto einen kleinen Ort an einem Berghang erkennen. Er mochte noch etwa zwei Kilometer von ihnen entfernt sein. Ein Kirchturm ragte zwischen den Dächern hervor.

»Otto«, meinte einer hinter ihm. »Otto?«

»Hm?« Otto drehte sich um.

Es war sein Kamerad Burkhardt. »Hörst du das?«

Otto horchte gespannt. Aber außer dem Brummen der LKW-Motoren und dem Marschgeräusch ihrer eigenen Stiefel konnte er nichts hören. »Was meinst du?«

Burkhardt nestelte nervös am Packriemen seines Tornisters herum. »Ich habe so ein komisches Gefühl … «

Otto drehte sich genervt wieder um. »Behalt’s für dich!« Das fehlte noch: jemand, der ihm jetzt Angst machte.

Einen Augenblick lang war Schweigen hinter ihm. Doch dann meldete sich Burkhardt erneut zu Wort: »Ich höre was. Da sind Flieger!«

Nur wenige Augenblicke später verbreitete sich Unruhe in der Truppe. Jemand rief etwas. Der vorderste Laster stoppte.

»Motoren aus!«, hallte es die Straße entlang.

Es dauerte einen kleine Weile, bis der letzte Lastwagenfahrer sein Gefährt gestoppt und den Motor ausgeschaltet hatte. Eine gespenstische Ruhe lag über der Straße und den umliegenden Feldern. Die Sonne ging auf und tauchte den Tag in ein zartes Rosa.

Otto hörte seinen Herzschlag laut in den Ohren klopfen. Aber durch das stoßartige Rauschen seines Bluts hindurch hörte er auch ein leises Brummen in der Luft.



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